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Rolle der Psychiatrie und Psychologie in der Adipositastherapie

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Rolle der Psychiatrie und Psychologie in der Adipositastherapie
 
von Dr. med. Bettina Isenschmid, MD et MME Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Psychosomatik SAPPM, Chefärztin KEA Spital Zofingen AG
C1 Isenschmid

Ursächlich sowie als kurz- und längerfristige Folgen sind psychische Belastungen und Erkrankungen bei der Adipositas häufig. Entsprechend den aktuellen Leitlinien (1) ist daher die Psychotherapie neben der Ernährungs-, Bewegungs- und medikamentösen Therapie ein unverzichtbarer Baustein jedes zeitgemässen Behandlungskonzepts. In der Psychotherapie setzen sich multimodale Behandlungsansätze durch, bei denen sowohl kognitiv-verhaltenstherapeutische, psychodynamische als auch systemische Behandlungselemente angewendet werden. Die Wirkung der Verhaltenstherapie ist jedoch empirisch am besten belegt (2,3). Dabei werden ungünstige Verhaltensmuster, die zur Entstehung der Adipositas beigetragen haben, im Hinblick auf ihre auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen untersucht. Neben der Modifikation und Stabilisierung des Essverhaltens mittels Förderung der Selbstbeobachtung und -kontrolle des Patienten stehen die Stressbewältigung, die Verbesserung der sozialen Kompetenz und die Bearbeitung interpersoneller und intrapsychischer Probleme im Vordergrund. Solche konservativen Gewichtsreduktionsprogramme und Lifestyle-Interventionen führen kurzfristig zu einer Gewichtabnahme von durchschnittlich 10 % des Ausgangsgewichts und damit zu einer relevanten Reduktion der körperlichen Begleiterkrankungen (4). Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass längerfristige Nachsorgeprogramme zu einer dauerhaften Verhaltensänderung beitragen und damit einer erneuten Gewichtszunahme entgegen wirken können. Dabei soll den neuen Medien, insbesondere dem Einsatz internetgestützter Therapieprogramme, eine wachsende Bedeutung zukommen. Der Einsatz von Psychopharmaka hingegen nimmt in der Adipositastherapie einen untergeordneten Stellenwert ein. Bei den Antidepressiva zeigt hauptsächlich der SSRI Fluoxetin eine gewisse Wirkung bei Essanfällen. Selbstverständlich werden komorbide psychische Erkrankungen ebenfalls bei Bedarf medikamentös behandelt, die Auswahl an gewichtsneutralen Präparaten ist jedoch sehr begrenzt (5). Bei mehr als 50% aller übergewichtigen Patienten finden sich Episoden von unkontrollierbarem Heisshunger, zentrales Kriterium der Binge Eating Störung, welche bei ca.10% der übergewichtigen Menschen, bei Teilnehmern an Gewichtreduktionsprogrammen bei bis zu 30% vorkommt. Die Rate der Betroffenen steigt mit dem BMI; so leiden unter den Personen mit BMI über 40 kg/m2 über 60% daran. Zur Binge Eating Störung gehören DSM 5 wiederholte Essanfälle, welche durch totalen Kontrollverlust, deutlich erhöhte Essgeschwindigkeit und Verzehr massiv grösserer Nahrungsmengen in kürzester Zeit bis zu unangenehmen Völlegefühl geprägt sind (6). Weitere, noch nicht klassifizierte Essstörungen sind: Night Eating (nächtliches anfallsweises Essen), Problem Eating (Essen zur Spannungsminderung bei Problemen), Craving (zwanghafte, unstillbare Gier nach Essen ohne Hunger- oder Sättigungsgefühl), Snacking (Zwischendurchessen) und Nibbling / Grazing (ständiges, zwanghaftes Naschen). Diese Essstörungen sind mit Schuldgefühlen und selbstabwertenden Gedanken verbunden und werden anfänglich oft verheimlicht. Das beschriebene Essverhalten hat die Funktion, Missempfindungen, Spannungsgefühle und psychischen Stress zu regulieren. Verhalten und Selbstwertgefühl hängen enorm oder vollständig von der subjektiven Wahrnehmung der Figur und des Körpergewichts ab. Weitere treten emotionale Veränderungen wie Stimmungslabilität, depressive und Angst-Symptome und psychosoziale Probleme auf, z.B. Unbehagen beim Essen mit anderen Personen oder sozialer Rückzug und Isolation aufgrund des abweichenden Essverhaltens und/oder des Körpergewichts. In Bezug auf die Binge-Eating-Störung ist die manualbasierte kognitive Verhaltenstherapie der bestuntersuchte Ansatz mit den derzeit günstigsten Behandlungsresultaten. Studienergebnisse zeigen, dass kognitive Verhaltenstherapie, einzel wie auch in der Gruppe, zu einer Verminderung der Essanfälle, der Hungergefühle und der Essattacken führt (7,8,9). Die Grenzen der konservativen Therapie sind in der Regel bei einem BMI von über 40 kg/m2 (Adipositas Grad III) oder ab 35 kg/m2 bei somatischen Komorbiditäten, welche eine rasche Gewichtsreduktion erfordern, erreicht. Der Hauptansatz liegt dort bei der Adipositaschirurgie. Im Rahmen der präoperativen Vorabklärung ist ein psychiatrisch-psychologisches Assessment gemäss SMOB erforderlich. Dieses wie auch die erfolgreiche vorgängige Bearbeitung psychischer Probleme sind wichtige Garanten für gute Compliance und dauerhaften Gewichtsverlust nach Adipositaschirurgie. Bei einer psychischen Erkrankung ist eine Psychotherapie auch in der obligatorischen postoperativen Nachsorge notwendig (10). Gründe dafür sind u.a. dass ca. 20% der Partner/Freunde eifersüchtig oder ablehnend auf den Gewichtserfolg reagieren, es zur Aggravation der Essstörungen oder Suchtverlagerung kommt, wenn keine alternative Bewältigung aufgebaut werden kann. Auch das veränderte Körperbild und die überschüssige Haut sind eine grosse Herausforderung, im Rahmen der Begutachtung für plastisch-chirurgische Eingriffe ist die psychiatrische Beurteilung zentral. Mit steigenden Fallzahlen, früheren Operationen und längerer Beobachtungsdauer zeigen sich weitere Probleme wie anhaltende Körperwahrnehmungsstörung, sog. Phantom Fat Disorder, postoperative Essstörungen wie z.B. Chew-and-Spit oder zwanghafte Nahrungsvermeidung (11, 12). Nicht immer gelingt eine nachhaltige Gewichtsreduktion durch die Adipositaschirurgie, so ist der Gewichtsverlauf bei 20 - 30% der Operierten letztlich unbefriedigend. Der Wiederanstieg des Körpergewichts ist mit der Rückkehr von Folgeerkrankungen wie z.B. Diabetes verbunden (13). Zusätzlich wird das obligatorische Nachsorgeprogramm nicht selten ungenügend wahrgenommen. Auch hier sind psychosoziale Belastungen beteiligt, sodass die psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung ausschlaggebend bleibt (14).

Literatur

  1. http://sgedssed.ch/fileadmin/files/1_ueber_uns/16_asemo/2017_11_03_consensus_FINAL_d_Druckboegen.pdf
  2. Becker S, Rapps N, Zipfel S (2007). Psychotherapie bei Adipositas – ein systematischer Review. Psychother Psychosom Med Psychol 57(11):420–427
  3. Hauner, H. und Wirth, A. (2013). Adipositas - Ätiologie, Folgekrankheiten, Diagnose, Therapie. Springer
  4. Bischoff SC, Damms-Machado A, Betz C, Herpertz S, Legenbauer T, Low T et al (2012). Multicenter evaluation of an interdisciplinary 52-week weight loss program for obesity with regard to body weight, comorbidities and quality of life - a prospective study. Int J Obes (Lond)36(4):614–624.
  5. De Zwaan M, Friederich HC (2006) Binge-Eating-Störung. Ther Umsch 63:529–533
  6. Wilson GT, Grilo CM, Vitousek KM (2007). Psychological treatment of eating disorders. American Psychologist 62: 199–216.
  7. Vocks S, Tuschen-Caffier B, Pietrowsky R, Rustenbach SJ et al (2010) Meta-analysis of the effectiveness of psychological and pharmacological treatments for binge eating disorder. Int J Eat Disord 43:205–217
  8. Brownley KA, Berkman ND, Sedway JA, Lohr K. & Bulik CM (200/). Binge eating disorder treatment: a systematic review of randomized controlled trials. International Journal of Eating Disorders 40: 337–348.
  9. McElroy SL, Guerdjikova AI, Mori N, Keck PE Jr (2015). Psychopharmacologic treatment of eating disorders: emerging findings. Curr Psychiatry Rep 17(5):35. doi: 10.1007/s11920-015-0573-1.
  10. http://www.smob.ch/de/component/jdownloads/send/1-root/61-smob-richtlinien-medizinisch-gueltig-ab-1-1-2018
  11. Jumbe S, Hamlet C, Meyrick J (2017). Psychological Aspects of Bariatric Surgery as a Treatment for Obesity. Curr Obes Rep. 6(1):71-78. doi: 10.1007/s13679-017-0242-2.
  12. Faccio E (2016). Becoming ex-obese: narrations about identity changes before and after the experience of the bariatric surgery. J Clin Nurs. 25(11-12):1713-20. doi: 10.1111/jocn.13222.
  13. Mingrone G et al (2015). Bariatric-metabolic surgery versus conventional medical treatment in obese patients with type 2 diabetes: 5 year follow-up of an open-label, single-centre, randomised controlled trial. Lancet. 386(9997):964-73. doi: 10.1016/S0140-6736(15)00075-6.
  14. Peterhänsel C, Petroff D, Klinitzke G, Kersting A, Wagner B (2013). Risk of completed suicide after bariatric surgery: a systematic review. Obes Rev. 14(5):369-82. doi: 10.1111/obr.12014.
 

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